Pfeifen im dunklen Walde
Die westlichen Medien haben ein eindeutiges Narrativ der „Zeitenwende“. Putins Russland hat seine Ziele nicht erreicht, diese Annahme geht von einem Blitzkrieg aus. Und von dem Ziel, die Ukraine besetzen zu wollen. Der Autor des folgenden Textes vertritt nicht nur in dieser Frage eine andere Ansicht. Er analysiert die Situation des Krieges und der Wirtschaft beider Seiten sowie die Interessen der verschiedenen Beteiligten. Trotz der aktuellen Bedrängungen Russlands sieht er Putin mittel- und langfristig in einer besseren Position als den Westen.
Russland führt nun seit mehr als einem Monat einen Krieg in der Ukraine, der von russischer Seite offiziell als militärische Spezialoperation bezeichnet wird. Ich komme später darauf zurück, warum er das auch ist. Die westlichen Medien haben sich in ein Narrativ hineingesteigert, nach dem Putin falsch gewettet hat und nach dem das russische Militär unerwartet schwach aussieht. Dieses Narrativ wird durch eine Analyse der militärischen Operationen als konventioneller Krieg gestützt. Gleichwohl ist es falsch, weil eine solche Analyse das Wesen der Auseinandersetzung falsch einschätzt. Krieg ist, nach Clausewitz, eben die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und daher letztlich auf politische Ziele ausgerichtet, nicht auf militärische.
Im Folgenden gebe ich meine eigene Einschätzung wieder, welche Ziele Putin und seine Regierung verfolgen und wie sie bisher in Bezug auf diese Ziele vorangekommen sind. Ich gebe auch eine Einschätzung der westlichen Vorbereitung auf diese Auseinandersetzung und der westlichen Reaktion auf den Krieg. Daraus folgen Szenarien dessen, was bevorstehen könnte. All das ist notwendig subjektiv. Mir scheint es allerdings nötig, dass die Diskussion im Westen nicht länger von einem Gruppendenken geprägt ist, das den Gegner, seine Absichten und seine Fähigkeiten systematisch und gefährlich unterschätzt.
Die Ziele Russlands bezüglich der Ukraine
Was Russland in der Ukraine bezweckt, lässt sich daraus ableiten, womit den machtpolitischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen Russlands am besten gedient ist. Diese Interessen sind eine Schwächung des Westens, eine nur vorübergehende wirtschaftliche Belastung Russlands, eine nur vorübergehende Bindung größerer militärischer Kräfte, eine Sicherung der Krim, vor allem als Basis der Schwarzmeerflotte und die Errichtung befreundeter Pufferstaaten im Donbass – in dieser Reihenfolge der Prioritäten.
Daraus folgt die Linie, auf der Russland einen Frieden schließen wird. Bedingungen sind die Anerkennung der Krim als Teils Russland, die Anerkennung der ehemaligen Oblaste Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten, die nicht mehr zum Territorium der Ukraine gehören, und der Verzicht der Ukraine auf die Zugehörigkeit zu einem gegen Russland gerichteten Militärbündnis. Insofern sich die EU gerade zu einem solchen Bündnis entwickelt, schließt das den Verzicht auf eine EU-Mitgliedschaft ein.
Russland wird militärische Stützpunkte in den Donbass-Republiken unterhalten. Russland hat dagegen kein Interesse, dauerhaft weitere Teile der Ukraine militärisch zu besetzen, in denen ihm die Bevölkerung mehrheitlich feindlich gesonnen ist. Russland hat kein Interesse, aus Selenskyj oder anderen Vertretern der jetzigen Regierung Märtyrer zu machen, noch auch diese Regierung abzusetzen. Russland hat ein Interesse, die Ukraine wirtschaftlich so weit wie möglich zu schwächen und innere Uneinigkeit zu erzeugen.
Die Anlage der russischen Militäroperation
Wie in jeder gut geplanten Militäroperation, spielte Täuschung eine große Rolle. Dem diente das frühe Erscheinen russischer Luftlandeeinheiten bei Kiew und dem dienten die Stoßkeile in Richtung Kiew. Es ist richtig, dass nach konventionellen Einschätzungen Russland nicht genug Kräfte hatte oder eingesetzt hat, um an allen Fronten gleichzeitig mit geringen Verlusten und großem Erfolg anzugreifen. Falsch ist die Annahme, das sei dem russischen Generalstab nicht bewusst gewesen. Die Strategie hat eine Konzentration ukrainischer Truppen verhindert und es damit erleichtert, die Landbrücke zwischen Russland und der Krim herzustellen. Diese Landbrücke wird gesichert sein, sobald Mariupol fällt. Das ist nur eine Frage der Zeit – und auf den zeitlichen Aspekt komme ich unten zu sprechen. Selbst an der von ukrainischer Seite stark befestigten Donbass-Front, sind die von Russland unterstützten Separatisten vorgerückt.
Neben dem Ablenkungsaspekt haben die auf die Umgebung von Kiew, auf Cherson, und das Kernkraftwerk bei Saporischschja gerichteten Angriffe das Ziel, Faustpfänder für die Friedensverhandlungen in die Hand zu bekommen. Russland stellt eigentlich unerträgliche Forderungen an die Ukraine. Die Ukraine muss aus russischer Sicht daher in eine Lage gebracht werden, die völlig unerträglich ist.
Aus all dem folgt, dass die russische Militäroperation nach einem Monat ihre Ziele weitgehend erreicht hat. Russland wird sich nun tatsächlich auf den Fall Mariupols und die Einnahme der restlichen noch in ukrainischer Hand befindlichen Gebiet der Oblaste Luhansk und Donezk konzentrieren. Daraus folgt nicht, dass Luftangriffe, Artillerieangriffe und gelegentliche Scharmützel an anderen Stellen aufhören werden. Russland wird die Intensität der Kriegsführung anderswo in dem Maße aufrechterhalten, das eine Verstärkung der ukrainischen Donbass-Front verhindert.
Russland hat Zeit
Eine wichtige Linie des westlichen Mediennarrativs ist die Erzählung vom gescheiterten Blitzkrieg. Russland konnte aus mehreren Gründen kein politisches Interesse an einem plötzlichen Fall der ukrainischen Regierung und einen Zusammenbruch der ukrainischen Staatlichkeit haben. Der wichtigste ist, dass sich daraus die Notwendigkeit einer längerfristigen Besetzung und Kontrolle weiter Teile der Ukraine und der Übernahme von Verantwortung für diese Gebiete ergeben hätte. Die Kosten dafür wären in jeder Hinsicht zu groß gewesen und es geht, wie ich unten darlegen werde, nicht eigentlich um eine Auseinandersetzung mit der Ukraine, sondern um eine Auseinandersetzung mit dem Westen.
Wichtige politische Ziele brauchten zudem Zeit für Entwicklungen, während derer sich die Ukraine im Kriegszustand und unter Beschuss befinden musste. Die Flüchtlingswelle ist eine dieser Entwicklungen. Sie zerreißt die Wirtschaft und Administration der Ukraine sowie ihr Bildungswesen und verschlechtert das Verhältnis zwischen gebildeten und einigermaßen wohlhabenden und schlechter gebildeten und ärmeren Teilen der ukrainischen Bevölkerung. Die Situation muss aus Putins Sicht andauern, damit diese Flüchtlingswelle so groß wird wie möglich und damit die Wahrscheinlichkeit einer späteren Rückkehr so klein wird wie möglich. Dadurch wird die Ukraine geschwächt. Im Westen geht übrigens kaum jemand davon aus, dass ein großer Anteil zurückkehren wird, obwohl es im Interesse des Westens sein müsste, dass alle zurückkehren, die nicht aus dauerhaft von Russland besetzten Gebieten stammen. Der Westen hat die Ukraine bereits aufgegeben, er will es nur nicht öffentlich zugegeben.
Das Angebot der USA, Wolodymyr Selenskyj schon in der Anfangsphase auszufliegen und im Exil aufzunehmen, war ernstgemeint. Die USA – und der Westen insgesamt – hatten ein Interesse an einem schnellen Zusammenbruch der Ukraine und der mittelfristigen Bindung russischer Ressourcen in der Ukraine. Diese Strategie ist an der vom Westen unerwarteten charakterlichen Stärke Selenskyjs und an der vom Westen unerwartet hohen Kampfmoral der ukrainischen Streitkräfte gescheitert. Diese Uninformiertheit wird im gängigen Narrativ nun auf Putin und Russland projiziert. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass die russischen Geheimdienste nicht informiert waren. Ein Angriff auf die Ukraine war nur dann sinnvoll, wenn die Ukraine auf dem Weg war, sich zu einer ernsthaften Bedrohung für die Separatisten im Donbass und mittelfristig für die Krim zu entwickeln. Putin ist demnach zu der Einschätzung gelangt, dass diese Entwicklung stattfand und aus seiner Sicht beizeiten gestoppt werden musste.
Es gibt einen weiteren Grund, warum die Zeit für Putin spielt. Dieser Krieg ist für die Ukraine viel teurer als für Russland und es laufen umso mehr Kosten auf, je länger er dauert. Nach gängigen Einschätzungen läuft die ukrainische Wirtschaft derzeit auf etwa der Hälfte ihrer Kapazität vor dem Krieg. Gleichzeitig hat das Land hohe Kriegsausgaben und in der Zukunft hohe Ausgaben für den Wiederaufbau. Die Ukraine ist wirtschaftlich nicht in der Lage, diesen Krieg weiterzuführen. Sie müsste kapitulieren, wenn nicht ein Teil ihrer Bevölkerung vom Westen unterhalten würde und wenn der Westen nicht große Teile ihrer Kriegsanstrengung bezahlen würde. Die Kosten laufen also im Westen auf – und genau das ist das Ziel der russischen Strategie. Auch nach dem Friedensschluss kommen auf den Westen noch erhebliche Kosten zu, aber pro Tag doch deutlich geringere als jetzt. Wegen des hohen Faktors zwischen den westlichen Kriegskosten und denjenigen Russlands – das zudem von hohen Rohstoff- und Düngemittelpreisen profitiert – liegt ein Andauern des Kriegszustands vorerst im russischen Interesse.
Die westliche Vorbereitung
Es ist von Interesse, wie sich der Westen vor dem Kriegsbeginn verhalten hat, weil man daraus Schlussfolgerungen über die Fähigkeiten der Regierungen zur strategischen Analyse und zur Koordination westlicher Regierungen untereinander ziehen kann. Putin hat die militärische Drohkulisse gegenüber der Ukraine über Monate aufgebaut und es war spätestens im Januar 2022 klar, dass er hinreichende Kräfte für eine erfolgreiche Militäroperation massiert hatte und aus dem Manöver heraus angreifen konnte. Zumindest US-amerikanische Geheimdienste scheinen auch davon ausgegangen zu sein, dass dieser Ausgang wahrscheinlicher sei als ein Bluff. Bei Kriegsausbruch war der Westen jedoch weitgehend unvorbereitet, vor allem die EU.
Als Grund kommen verschiedene mögliche Fehleinschätzungen in Frage. Zunächst könnten europäische Regierungen doch von einem Bluff ausgegangen sein. Das würde auch erklären, warum man die Ukraine nicht vorab zu einer Verhandlungslösung gedrängt hat und vom ohnehin illusorischen Vorhaben einer potentiellen ukrainischen NATO-Mitgliedschaft abgerückt ist. Wenn die westeuropäischen Regierungen von einem Bluff ausgegangen sind, waren ihre geheimdienstlichen und analytischen Fähigkeiten völlig inadäquat; darauf komme ich zurück.
Eine sinistre Alternative, fast schon im Range einer Verschwörungstheorie, ist die Annahme, dass westliche Regierungen Russland zu diesem Krieg verleiten wollten, um das Land zu isolieren, seine Ressourcen in der Ukraine zu binden und es innerlich zu destabilisieren. Die Ukraine wäre in diesem Fall ein Bauernopfer. Die Frage der Ressourcen habe ich bereits behandelt; dieses Szenario ist ungünstig für den Westen und günstig für Russland. Die Frage der russischen inneren Verfassung werde ich unten behandeln, auch hier erzielt der Westen keinen Vorteil. An der Isolation beteiligen sich weder China noch Indien und mindestens im Falle Chinas war das auch absehbar. Aus deutscher Sicht war es wegen der Energieabhängigkeit von Russland eine sehr hohe Priorität, diesen Krieg zu verhindern. Das musste selbst einer sehr inkompetenten Regierung klar sein. Aus Sicht der USA ergibt dieses Szenario deshalb keinen Sinn, weil die USA in sehr kurzer Zeit offen sichtbar eine verbündete Regierung und ihre Anhänger ans Messer liefern. Seine Verbündeten schützt man, weil man sie sonst verliert und keine neuen findet. Ein Bündnis mit den USA ist unterhalb einer NATO-Mitgliedschaft kontraproduktiv und verringert die eigene Sicherheit. Wer sich außerhalb der NATO befindet, sollte sich in Bezug auf Auseinandersetzungen der USA besser strikt neutral verhalten. Das hat beispielsweise der Schweizer Bundesrat nicht begriffen.
Aus Sicht der USA könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass Europa im Vergleich zu Asien ein Nebenschauplatz ist, an dem man keine wesentlichen Ressourcen binden will. Gerade dann hätte man aber versuchen müssen, den Krieg zu vermeiden. Zudem ist es auch in dieser Hinsicht kontraproduktiv, schon wieder einen Verbündeten fallenzulassen.
Die aus meiner Sicht wahrscheinlichste Erklärung für das Versagen westlicher Politik vor dem Krieg sind im Fall der USA ein überforderter Präsident und innere Uneinigkeit. Analog trifft das auf Deutschland zu. Aus diesen Punkte ergibt sich ein Charakteristikum westlicher Politik und Administration, das man auf allen Ebenen findet und dass Putin sogar ohne Geheimdienste hat auffallen müssen: Harte Entscheidungen, werden vermieden oder zumindest so lange wie irgend möglich hinausgezögert. So lange das so bleibt, wird der Westen in Krisen jeglicher Art versagen.
Was hätte der Westen tun sollen? Gegenüber dem Truppenaufbau Russlands und der unverhohlenen Drohung mit Krieg hätte man eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche reagieren müssen. Berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands, insbesondere in Bezug auf eine dauerhafte Neutralität der Ukraine, hätte man entgegenkommen können, denn es gibt kein Recht eines Landes, in ein Militärbündnis aufgenommen zu werden. Selbst die Anerkennung der Krim als Teil Russlands wäre gegen weitgehende Garantien Russlands möglich gewesen, weil ohnehin jedem klar ist, dass Russland die Krim nicht wieder ohne einen Krieg hergeben wird. Auch eine Umsetzung des Minsker Abkommens durch die Ukraine hätte man erreichen können. Gleichzeitig hätte man mindestens eine strategische Zweideutigkeit aufrechterhalten müssen, wie man auf einen Angriff Russlands auf die Ukraine reagiert und man hätte sich vor allem im Westen untereinander vorab einigen müssen, wie weit man in so einem Fall gehen will und welche Aktionen genau Russland treffen würden, statt nur einen propagandistischen Effekt innerhalb des Westens zu entfalten.
Die Vorbereitung Russlands
Russland hat sich auf allen Gebieten langfristig auf diese Auseinandersetzung mit dem Westen vorbereitet. So hat es zum Beispiel in letzter Zeit Staatsanleihen mit einer Klausel versehen, die eine Rückzahlung und Zinszahlungen in Rubel zulässt. Russland hat vorab auf eine Verteuerung von Erdgas und damit auf eine Verringerung westeuropäischer Erdgasreserven hingewirkt. Es hat Sanktionen antizipiert, auch im Finanzsektor und sich darauf vorbereitet. Sehr wahrscheinlich ist Russland sogar darauf vorbereitet, den Export von Energieträgern nach Westeuropa völlig zu stoppen.
Die westlichen Geheimdienste haben grob versagt, wenn sie das Muster dieser Vorbereitungen nicht vorab erkannt haben. Es musste ihnen klarwerden, dass Russland eine Auseinandersetzung mit dem Westen suchen würde. Aus russischer Sicht ist die Ukraine nur der Anlass, nicht der Grund und die Schwächung der Ukraine ist ein Nebenziel gegenüber dem Hauptziel einer Schwächung des Westens. Wenn die Geheimdienste das so erkannt und den Regierungen kommuniziert hatten, haben die Regierungen versagt.
Die Vorbereitungen Russlands waren, im Großen und Ganzen, ausreichend. Russland hat eine Zinszahlung auf eine ältere Staatsschuld in Dollar leisten können. In der fast vergangenen Woche hat die Börse in Moskau den Handel wiederaufgenommen, zunächst für nur 31 Unternehmen. Die Aktien von Energie- und Rohstoffunternehmen legten zu. Inzwischen werden wieder alle Aktien gehandelt. Die russische Wirtschaft und das russische Finanzsystem haben den antizipierten Schock überstanden. Der Westen hat keine weiteren Instrumente mehr, um daran jetzt noch etwas zu ändern.
Die Wirkung westlicher Sanktionen
Im unmittelbaren Vorfeld des Angriffs Russlands auf die Ukraine und danach, haben westliche Regierungen öffentlich darüber gefeilscht, welche Sanktionen möglich sind und welche nicht. Das hat sich bis in die fast vergangene Woche fortgesetzt. Dabei war der Westen nicht bereit, die Auseinandersetzung so weit anzunehmen, dass er kurzfristig sehr große eigene Opfer erbracht hätte. Dementsprechend war er nicht in der Lage, Russland entscheidend zu schaden. Die Sanktionen wurden, wie so vieles in der gegenwärtigen westlichen Politik, an ihrer Publikumswirksamkeit ausgerichtet und nicht nach Sachgesichtspunkten. Es ist nicht völlig klar, ob der durch diese Sanktionen erzeugte wirtschaftliche Schaden auf russischer oder westlicher Seite größer ist. Kurzfristig ist vermutlich der Schaden auf russischer Seite etwas höher, aber nach den Investitionen der Umstellung wird er es über einen längeren Zeitraum auf westlicher Seite sein. Netto werden die Sanktionen wohl den Westen und dabei vor allem Europa mehr schwächen als Russland.
Ein besonders krasses Beispiel ist der Rückzug westlicher Unternehmen aus dem russischen Markt und das Vorgehen gegen die Statussymbole reicher Russen im Westen. Seitdem es in Russland reiche Leute und eine gut situierte Mittelklasse gibt, orientieren sich deren Statussymbole zu einem nicht geringen Teil am Westen. Es ist klar, dass das aus Putins Sicht ein Problem darstellt und vermutlich hat er aus russisch-nationaler Sicht damit sogar Recht. Dieses Problem löst gerade der Westen für Putin durch seine Sanktionen. Jede Gesellschaft hat Statussymbole, weil Menschen nach Status streben. Das definitive Buch darüber ist wahrscheinlich immer noch „Status seekers“ von Vance Packard. [1] In Zukunft werden die Statussymbole in Russland russischer Natur sein. Kurzfristig mag das für einige Unzufriedenheit sorgen, aber langfristig erleichtert es die Ausrichtung der russischen Gesellschaft gegen den Westen.
Die innere Lage Russlands
Einige der besten russischen Intellektuellen haben sich öffentlich gegen den Krieg gestellt. Manche von ihnen haben das Land verlassen, andere werden ihre Positionen verlieren und in die innere Emigration gehen, noch andere werden nach internen Diskussionen die neuen Grenzen dessen akzeptieren, was in Russland öffentlich gesagt werden darf. Einen Kodex dessen, was öffentlich gesagt werden darf, gibt es in jeder Gesellschaft. Er ist zuletzt auch im Westen schmaler geworden. Daraus folgt noch nicht, dass eine Gesellschaft stagnieren muss. China ist ein offensichtliches Beispiel, dass ein restriktives politisches Klima mit einer stürmischen Entwicklung der Gesellschaft und Wirtschaft vereinbar ist. Russland wird einen Teil seiner intellektuellen Eliten verlieren. Auch das hat aber zwei Seiten, denn diejenigen, die frei werdende Positionen füllen, haben Grund zur Loyalität. Zudem kann in Russland eine Aufbruchstimmung entstehen, weil wegfallende Importe aus dem Westen ersetzt werden müssen. Das russische Bildungswesen ist hinreichend gut, um die nötigen Fachkräfte zu liefern. Technologische Sanktionen werden wirkungslos bleiben, weil China über alle für Russlands Wirtschaft nötigen Technologien verfügt und Russland bei China mit dringend benötigten Energieträgern zahlen kann.
Über die tatsächlichen Opferzahlen der russischen Streitkräfte in der Ukraine gibt es keine zuverlässigen Angaben. Selbst die höchsten gehandelten Zahlen stellen jedoch für russische Verhältnisse bisher kein erhebliches Problem dar. Große Teile der russischen Truppen beziehen derzeit Verteidigungsstellungen, um Faustpfänder für die Verhandlungen zu sichern. Die Opferzahlen werden dort sinken. In den Gebieten, in denen weiterhin heftige Kämpfe toben, wird ein erheblicher Teil des Blutzolls von Donbass-Separatisten erbracht, die aus ihrer Sicht um ihr eigenes Territorium kämpfen und von tschetschenischen Kämpfern, die solche Verluste kulturell akzeptieren. Man muss davon ausgehen, dass Putin mindestens noch ein Jahr Zeit hat, ehe die gesellschaftliche Diskussion um russische Verluste unvermeidlich wird. Wenn er vorher einen Verhandlungsfrieden erreicht, der aus russischer Sicht als Sieg darstellbar ist, werden die Verluste akzeptiert werden. Das sollte ihm möglich sein, denn weder die Ukraine noch der Westen können es sich leisten, den Friedensschluss so lange hinauszuzögern.
Die westlichen Optionen
Putin hat weiterhin die strategische Initiative. Er hat bisher kontrolliert eskaliert und kann noch mehrere Eskalationsstufen erklimmen, ohne dass die Lage für ihn prekär würde. Die westlichen Optionen sind dagegen stark limitiert. Für weitere Sanktionen gibt es kaum noch Möglichkeiten und diejenigen, die es theoretisch noch gibt, wie etwa einen vollständigen Stopp der Energieimporte, würden dem Westen und insbesondere Europa um ein Vielfaches mehr schaden als Russland. Was die wirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Optionen angeht, so sind diese ausgereizt, ohne dass der Westen entscheidende Erfolge erzielt hätte.
Ein direktes militärisches Eingreifen wird weiterhin ausgeschlossen, auch wenn mit dem Szenario einer roten Linie bei einem Chemie- oder Biowaffeneinsatz jetzt eine strategische Zweideutigkeit aufgebaut wurde. Diese ist wenig glaubwürdig, weil der Westen im Kriegstheater der Ukraine militärisch unterlegen wäre. Diese Ansicht mag angesichts des nicht unbedingt erfolglosen ukrainischen Widerstands erstaunen, lässt sich aber begründen. Bereits in Syrien hat die amerikanische Luftwaffe eine Auseinandersetzung mit der russischen vermieden. Diese wäre schon unter Flugzeugen verlustreich, zudem deckt die russische Luftverteidigung und Truppenluftabwehr angesichts der Truppenverteilung und der Aufmarschgebiete das Territorium der Ukraine, insbesondere die Kampfgebiete, viel besser ab als die westliche. Was Bodentruppen angeht, so kann der Westen keine hinreichend starken Kräfte mobilisieren, um in der Ukraine Angriffsoperationen zu führen. Auch hier wären zudem die Verluste zu berücksichtigen. Die ukrainischen Truppen verteidigen ihr Land und sind bereit, Verluste zu tragen. Die Bundeswehr würde in einem weitgehend aussichtslosen Kampf fremdes Territorium zu befreien versuchen, nachdem die Politik das lange vehement ausgeschlossen hatte. Eine militärische Option des Westens gibt es nicht. Das schließt nicht aus, dass die Politiker die Nerven verlieren. Noch viel mehr als bei weiteren Sanktionen würde der Schaden aber hauptsächlich auf Seite des Westens entstehen, nicht auf russischer.
Die einzige verbleibende und derzeit auch verfolgte Option ist wirtschaftliche und militärische Hilfe für die Ukraine. Dies ist ein Verlustgeschäft, das allerdings nach den vorherigen Fehlern des Westens unvermeidbar ist, denn die Ukraine kann jetzt nicht völlig fallengelassen werden. Andererseits muss man der ukrainischen Regierung hinter den Kulissen auch klarmachen, dass ihr Kreditrahmen begrenzt ist und dass sie eine Friedenslösung finden muss, auch wenn diese Lösung schmerzliche politische und territoriale Zugeständnisse erfordert. Im Gegenzug sollte man der Ukraine ein Wiederaufbauprogramm zusichern, das immer noch billiger käme, als eine lange Fortdauer des Krieges. Ein solches Programm würde für die Ukraine nach Akzeptanz der Verluste auch eine bessere Zukunft eröffnen als das Beharren auf Positionen, die ohnehin nicht zu halten sind.
Worum es wirklich geht
Putin hat am 24. Februar 2022 eine Grundsatzentscheidung getroffen, wohl kaum ohne vorherige Rückversicherung bei China. Diese Entscheidung bedeutet einen völligen Bruch mit dem Westen und die Aufgabe des Westens als wichtigen Wirtschaftspartner Russlands. Dessen war sich Putin völlig bewusst und auch der nervösere Dunstkreis um ihn war sich dessen bewusst. Ob das westlichen Geheimdiensten und westlichen Regierungschefs wirklich bewusst ist, bleibt auch einen Monat später unklar. Misst man die Sache an den Reaktionen westlicher Regierungen, dann haben sie es nicht begriffen und üben sich noch in schwerer Verdrängung.
Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. Wenn der Westen keine erheblichen Zugeständnisse macht, steht der Stopp russischer Energielieferungen ins Haus, bevor Europa diesen wirtschaftlich abfangen kann. Das folgt einfach daraus, dass dieser Stopp im Westen erheblich mehr Schaden anrichten würde, selbst dann, wenn Russland nicht bereits fortgeschrittene Planungen für den Absatz freiwerdender Kapazitäten haben sollte. Putin sucht nur nach einem Weg, die Schuld für den Abbruch der Lieferungen dem Westen zuzuschieben. Nun entfaltet der Westen schon fieberhafte Aktivitäten, um den Ausfall russischer Lieferungen so weit wie möglich auszugleichen. So weit wie möglich ist aber nicht sehr weit. Es wirkt so, als ob den Politikern der Ernst der Lage nicht bewusst wäre. Anderenfalls würde die Frage der Energiesicherheit jetzt viel radikaler und ohne jegliche ideologische Rücksicht aus der Zeit von vor dem 24. Februar angegangen. Stattdessen kann man Regierung und Parlament bei „business as usual“ beobachten. Man könnte denken, nur die Ukraine befände sich in einem Krieg mit Russland und nicht der gesamte Westen in einem hybriden Krieg mit Russland. Wer das denkt, liegt falsch.
Nachtrag (30.3.2022, 8:20 Uhr)
Nach den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in der Türkei hat Russland angekündigt, militärische Druck von der Stadt Kiew zu nehmen und dort Truppen abzuziehen. Die ukrainische Seite behauptet, das sei wahrscheinlich nur eine Umgruppierung und die Truppen würden an andere Frontabschnitte verlegt. Der Westen stützt die Ansicht der Ukraine.
Was ist davon zu halten? Richtig ist, dass eine Umgruppierung der russischen Kräfte in der jetzigen Situation strategisch sinnvoll ist. Das muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass der Rückzug, der die erste Phase der Umgruppierung ist, zum Deeskalationsschritt gemacht werden kann. Russland wird das sehr wahrscheinlich vom Fortgang der Verhandlungen und möglicherweise der Kampfhandlungen abhängig machen.
Wahrscheinlich ist, dass die Truppen hinter die ukrainische Grenze im Norden in Bereitstellungsräume östlich des Dnjepr, etwa in der Nähe von Charkiv verlegt werden. Wenn die nächsten Verhandlungen stocken oder wenn die ukrainische Seite die vor Kiew verbleibenden Truppen massiv anzugreifen versucht und wenn ausserdem Mariupol gefallen ist, werden diese Truppen vermutlich für einen Zangengriff gegen die an der Donbass-Front massierten ukrainischen Truppen eingesetzt werden.
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[1] Vance Packard: Die unsichtbaren Schranken. Theorie und Praxis des Aufstiegs in der klassenlosen Gesellschaft. (The Status Seekers). Dt. Buch-Gemeinschaft, Berlin 1962.
Gunnar Jeschke ist Chemiker und Professor für Elektronenspinresonanz an der ETH Zürich. Er schreibt regelmäßig in der Freitag Community. Dort erschien zunächst auch dieser Artikel und wird – unter Beteiligung des Autors – rege diskutiert: https://www.freitag.de/autoren/gunnar-jeschke/putin-die-zeitenwende-eine-analyse